Mittwoch, 5. August 2015

Kulturstunde

Saré kommt auf mich zu und fragt, wer mein Führer ist. Du, sage ich schnell, und schon stehen wir bei den ersten Exponaten. Sie führt mich mit Hingabe und starker Stimme die Schautafeln und Vitrinen entlang und liest mir beherzt alles auf Englisch vor, was dort englisch geschrieben ist. Ergänzungen beziehen sich nur auf Fundorte in der Umgebung. Immerhin sehen wir Funde aus der Steinzeit, von den Elamitern, den Uratäern und der Zeit der Archämenidenkönige bis zur Gegenwart – und das alles in nur einem Saal. Sie bedenkt mich mit forschen Blicken, erzählt von ihrem kürzlich verstorbenen Vater und seinen blauen Augen, der in Europa geboren war, und erklärt die ausgestellten goldenen Schmuckstücke mit Handbewegungen, als würde sie sie selbst anlegen. Ich sehe dunkelblondes Haar unter dem Kopftuch, aber braune Augen. Als wir die Sperrstunde des Museums erreichen, gibt sie sich als Englischlehrerin zu erkennen und willigt ein, noch auf ein Getränk mitzukommen. Es sind aber dann nur wenige Sätze, die wir miteinander sprechen, immerfort telefoniert sie, und bevor noch etwas serviert wurde in dem feinen Lokal, in das sie uns eine halbe Stunde lang geführt hat, muss sie sich verabschieden, weil ihre Mutter sie erwartet.

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Christen in Urmiya

Die Apostolische Assyrianische Kirche ist duophysitisch, und nicht monophysitisch wie die Assyrische oder die Armenische Kirche, sagt der Priester. In der Kirche ist keine Ikonostase, nur ein Kommuniongitter, das den Raum der Priester und Diakone abgrenzt. Der Altar steht an der Ostwand. In der Kirche sind weder Bilder noch Statuen, unser Patriarch habe das nicht gewollt, sagt er. Patriarch Mardensa habe in Chicago residiert, vor wenigen Wochen sei er gestorben, nun würde in Arbil, Irak, ein neuer gewählt. Er zeigt mir Bibel und Gebetsbuch in aramäischer Sprache, der Liturgiesprache. Man spreche von Maria als Mutter Christi – den Titel Gottesmutter lehne seine Kirche ab. Später lerne ich seinen Sohn kennen, der mit 17 Diakon ist. Früher habe man in der Nähe von Damaskus Theologie studiert. Jetzt müssten angehende Priester im Iran einen Kurs absolvieren, der Sohn überlegt das.
Die Assyrer betrachten sich als ein Volk, das über vier Länder verstreut ist. Im Iran geht es ihnen am besten, sie fühlen sich wohl hier. In Syrien und im Irak werden sie im Krieg verfolgt, in der Türkei drangsaliert. Aber er gibt zu, dass sie auch hier mit der immer stärkeren Abwanderung zu kämpfen haben. 5000 Gläubige zähle seine Gemeinde, und die Kirche war gestern Sonntag voll, erzählt er stolz. Er erwähnt nicht, dass im 19. Jahrhundert viele Chaldäer, Assyrer, Armenier und Nestorianer hier gelebt hätten, aber nach katholischen und protestantischen Missionstätigkeiten 1880 sowohl von Kurden wie von Iranern massakriert und ihre Kirchen zerstört wurden. 1918 war der Großteil der verbliebenen Christen vor den anrückenden Türken geflohen, die nicht einen neuerlichen Genozid abwarten wollten.

Ob er bei Iranern Interesse am Christentum bemerke? Das hält er nur für Schein. Einmal Moslem, immer Moslem, sagt er trocken.
Und das Verhältnis zur katholischen Kirche? Er findet es bedauerlich, dass die lateinische Sprache aufgegeben wurde und die Gebetsrichtung nach Osten, durch den Volksaltar. Eines Tages würden wir uns noch der protestantischen Kirche anschließen, meint er, und zeigt mir beim Abschied noch die versperrte assyrisch protestantische Kirche gegenüber.

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Ein Salzbad und ein Flussbad und ein Hallenbad

Aram hatte die Idee, ein Auto zumieten für einen Tag – das wäre billiger als ein Taxi, und man könnte alle interessanten Dinge sehen in Urmiya und in der Umgebung.
Aram ist Kurde, bezeichnet Urmiya als kurdische Stadt und spricht mit jedem dritten Satz von den Kurden und der Ungerechtigkeit, sich nicht selbst regieren zu dürfen. Er ist Rechtsanwalt, aber für internationales Handelsrecht. Statt für kurdische Belange als Rechtsanwalt zu kämpfen, was ihm zu gefährlich vorkommt, spekuliert er mit einem Studienaufenthalt in den USA oder mit der Ausreise nach Kanada.
Wir fahren zum Urmiya-See, und Aram ist sehr erstaunt, dass kaum mehr Wasser da ist. Anstatt über eine Brücke fahren wir über einen kilometerlangen breiten Damm. Er mag kein Salzwasser, sagt Aram in abgehackten englischen Sätzen. Als wir dann doch noch eine Brücke und eine zugängliche Wasserfläche finden, steuert er genau dorthin, wo die meisten Leute sind, eine Art Viehtränke für Familien. Einige Kinder und Frauen waten im Wasser, gänzlich bekleidet. Junge Männer tollen umher mit viel Geschrei. Ich steige etwas abseits ins Wasser, um die Leute nicht mit meiner Badehose zu irritieren, und lege das T-Shirt erst auf einer Salzbank ab. Man liegt auf dem Wasser wie eine Luftmatratze, ebenso wie im Toten Meer – schwimmen kann man das nicht nennen. Auf dem Rücken liegend, rudere ich mit den Beinen zwischen den Salzbänken hindurch. Das Wasser hat Badewannentemperatur und die Konsistenz von Spagettiwasser. Als ich zurückkomme, sind meine Sandalen weg – stattdessen liegen zerfetzte Plastiksandalen dort. Zur Entschädigung bekommen wir von einer kurdischen Familie Tee serviert auf einem Kofferraumdeckel, und sehen den Autos zu, die über die Schotterrampe bis ganz zum Salzstrand hinunterfahren, alle vollbesetzt mit iranischen und kurdischen Familien, bis die Reifen im Salzschlamm versinken. Alle Stunden kommt dann ein Traktor und zieht die Autos wieder heraus. Der junge Mann erzählt von Flamingos und Pelikanen, die noch vor wenigen Jahren hier genistet hätten, und von Maßnahmen der Regierung. Das Wasser steige wieder an. Aber der Damm, der die Zirkulation verhindert wird verbreitert zugunsten weiterer Fahrstreifen.

Später fahren wir zu einem klaren Flüsschen, das sich durch ein weidenbewachsenes Tal windet. An einer tieferen Stelle breitet Aram seinen Teppich aus, damit wir uns darauf lagern, inmitten von Plastikmüll und Melonenschalen. Ich bin schnell im kalten Wasser, allein schon deswegen, um das restliche Salz abzuwaschen, und finde Textilien, sogar zerfranste Teppichstücke zwischen den spitzen Flusssteinen. Die Männer tollen brüllend herum, die Chipssackerl hüpfen vor dem Wind her über den Boden und fangen sich schließlich an ins Wasser ragenden Ästen. Die Iraner und Kurden steigen mit ihren Plastiksandalen darüber und setzen sich zu ihrer Grillstelle am Gaskocher oder am offenen Feuer, an dessen Rauch wir alle teilhaben. Aram steigt ein wenig im Wasser herum, hinein geht er auch hier nicht.

Am nächsten Tag sind wir dann doch noch regulär schwimmen. In einem kleinen Hallenbad in Urmiya, weil im großen, das mir Aram stolz zeigen wollte, heute leider Frauentag ist. Nach den schon bekannten Modalitäten: Magnetstick umschnallen/ Schlapfen aus/ Plastikschlapfen an/ Kästchen finden, aufsperren/ umziehen/ mit Plastikschlapfen in die Schwimmhalle durch die Glasschiebetür/ Plastikschlapfen in den Korb/ ins Wasser ist es soweit: Kopfsprung/ knappe Länge durchtauchen/ 10 min Vollgas/ 3-4 Stöße pro Länge.....
Als ich nachher im Kaltwasserbecken ausschnaufe und die Leute besehe, sind zuerst nur 3 oder 4 Männer da. Aber auch als später noch einige kommen, Großväter mit Enkeljungs: da kann kaum einer wirklich schwimmen/ Kraftlackel viele, aber die plantschten nur im Seichten/ Hundepaddeln/ halbe Länge die Jugendlichen
später mit zwei Kurden aus Istanbul in der Sauna/ Lehrerstudent/ Psychologiestudent/ türkische Kurden oder kurdische Türken/ nasilsimiz/ teshekür ederim/ sind wegen einer Hochzeit da/ Brautbruder/ Coussin
ich komme aus China, Singapur/ Aram aus Kenia, Afrika/ Kurden gibt es doch überall!/
kurdische oder iranische Pizza: ein Kuchen mit daraufgestopften Sachen, angeheizt/ die China/Keniageschichte macht uns in der ganzen Straße bekannt/ schon beim Einparken blicken sie durch die Scheibe herein und grinsen uns an/ der Wirt zeigt mit den Fingern an seinen Augen, wie er sich Chinesen vorstellt/ ich zeige ihm meine roten Chloraugen/ im Taxi beeilt sich Aram, als erster auf Kurdisch zu Wort zu kommen

bei der Abreise am Busterminal standen einige Burschen vor den Bussen herum und witzelten/ der mit dem besten Englisch sprach mich an/ ich der Chinese/ er, der Kamelcowboy/ sein Freund wurde zum Elefantenreiter/ Reitergesten in der Luft/ Schulterklopfen/ Gelächter/ alle auf der Plattform um uns geschart/ Telefonnummern ausgetauscht/ herzliche Verabschiedung wie unter alten Freunden nach 15 Minuten/ in Hamadan würden sie mich durch die Stadt führen/ in meiner Schulzeit in Floridsdorf konnte es auch so sein/ generationsübergreifende übermütige Brüderlichkeit/ Kurden unter Kurden


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