Donnerstag, 13. August 2015

Die Theorie der beiden Parks

Spät am Abend wollen Ali und ich uns noch ein wenig die Füße vertreten und gehen im Park spazieren, unweit von Mashas Wohnung im Stadtteil Enghelab, im Universitätsviertel mit dem Krankenhochhaus und den Universitätskliniken, wo auf einer einzigen Straße mehr Buchhandlungen sind als in meiner ganzen Provinzstadt.
Wir betreten den Laleh-Park von der Hejab-Straße und schlendern in der warmen Abendluft über den breiten Parkweg. Schon nach der ersten Biegung sehe ich im Schein der Parklaternen fröhliche Familien Federball spielen, mit Papa und Mama, Bruder und Schwester. Ich bin nicht mehr überrascht, hier mitten in der Stadt auch zu dieser späten Stunde nicht allein zu sein. Aber schon nach wenigen Metern sehe ich, wie organisiert diese Lebendigkeit ist. Denn da sind Volleyballnetze quer über den Asphalt gespannt zwischen den geraden Stämmen der Ahornplatanen, und kleine und große Gruppen schubsen und baggern, donnern und blocken den Ball übers Netz. Dann gibt es wieder die Fußballer. Ali erklärt mir den Unterschied zwischen den Dribblern mit dem Lederball, die auf die mitgebrachten kleinen Tore spielen, und denen mit dem Plastikball mit Dreierteams und Austauschspielern, denn das wäre ein eigener Bewerb. Es sind junge Menschen im Studentenalter, manchmal Schulalter, vorwiegend, aber nicht ausschließlich Männer, in ernsten Kämpfen, aber mit freundschaftlichem Umgang. Denn sehe ich auf einem anderen Weg die Ping-Pong-Tische, deren bunte Farben im Schein der Parklaternen abenteuerlich leuchten, nicht weniger als die oft neonfarbigen T-Shirts der Spieler. Aber zu den Federball-und Volleyballspielern, Dribblern und Tischtennisspielern gibt es ja auch noch die Zuseher, zuweilen auf Parkbänken, oft aber auch bloß auf den Randsteinen unter den Alleebäumen hockend, miteinander witzelnd, Kommentare und Anfeuerungen einwerfend. Wir bleiben immer wieder stehen, sehen Tore fallen, sehen Aufschlägen zu, lange und kurze Ballwechsel, sehen sogar Badmintonspieler, die den Federball übers Netz wuchten, und immer wieder verirrte Bälle, die von anderswoher durch das Spielfeld kollern, bis sie endlich wieder zurückgeschossen werden. Oft werden wir angesprochen, manchmal zum Mitspielen eingeladen, zuweilen gibt es auch bloß den Ball zurückzuschießen.
Schließlich kommen wir zu einer mit gelblichem Licht erhellten strohgedeckten Laube. Dort sitzen an vielen Tischchen Männergruppen um ein Schachspiel, daneben gibt es Backgammon, dann eine Schnapserrunde, und ich habe auch Damespieler gesehen. Hier sind eher ältere Männer beschäftigt, und das Verhältnis von Spielern und Zuschauern scheint ausgewogen zu sein. Hier herrscht zuweilen angespannte Konzentration, dann wieder ausgelassene Fröhlichkeit.
Ali macht mich auf eine kleine Gruppe junger Leute aufmerksam, die um ein Tischchen hocken, das fast im Finstern steht. Sie werfen nacheinander eine Zündholzschachtel auf den Tisch. Man erklärt mir die Regel: Kommt die Schachtel senkrecht zum Stehen, ist der Werfer ein König. Der darf dann einem anderen Werfer einen Befehl erteilen. Kommt sie auf der Seitenkante zum Stehen, ist der Werfer eine Königin, mit der oberen Flachseite ist er ein Städter, mit der unteren ein Bauer, und fällt die Schachtel gar vom Tisch, so ist der Werfer ein Dieb und muss die Befehle aller anderen ausführen.
Die weitere Runde durch den nun schon mitternächtlichen Park führt uns am Teich mit den beleuchteten Wasserfontänen vorbei, und wir sehen Blechtische, auf denen hochkonzentriert mit blitzschnellen Drehungen Tischfußball gespielt wird. Und schließlich ist da noch der Skaterplatz, auf dem ein bunt gemischtes Grüppchen zu Musik Runden dreht. Dabei scheint immer jemand Aufgaben zu geben, dann zuweilen rauschen die Skater einbeinig, dann rückwärts, dann wieder hochgestreckt oder trippelnd vorbei.
Und sogar hier, zwischen Alleebäumen und Asphaltwegen, spärlich von Laternen erleuchtet, lagern immer wieder Pärchen, Plaudergruppen, Picknickfamilien oder Damenrunden auf unsichtbaren Wiesen oder Randsteinen oder auch zuweilen direkt am Asphalt, oder man steckt die Fuße ins kalte Wasser des vorbeiplätschernden Baches.

Am nächsten Abend bin ich mit Mitra und Ali wieder unterwegs, diesmal aber im Ab-&-Atash-Park, auf einer Anhöhe inmitten der 15-Millionen-Stadt. Großer Zustrom auch hier. Ich sehe erleuchtete Segeldächer, Flanierplätze, geheimnisvolle Beleuchtungen, sehe Drahttürme, aus denen später Flammen schlagen werden, sehe einen Pony-Reitplatz, einige Holz-, Metall- und Steinskulpturen und schließlich alles auf eine aberwitzige Brückenkonstruktion zulaufen, die mit unzähligen Rampen und Ebenen, eingebauten Cafes und spektakulärer Beleuchtung, den Hügel über die stark befahrene, aber tief darunterliegende Stadtautobahn hinweg mit dem gegenüberliegenden Berg verbinden, wo dann wieder verschiedene Wege durch steiles Waldgelände führen. Es herrscht eine ausgelassene, beinahe feierliche Stimmung, ein wenig Neugier, Geschäftigkeit, wohl auch eine Gelegenheit, sich zu präsentieren und die neueste Garderobe auszuführen. Einige wenige Picknicker haben sich auf die Granitplatten gewagt, denn freie Wiesen gibt es nicht. Und nur bei dem Segeldach ist es hell genug für ein paar Federballspieler. Ansonsten zieht man schwatzend vorüber und registriert Ausblicke, zu denen man zuweilen stehen bleibt. Zusammen mit Mitra bemerke ich: Hier spricht dich niemand an, hier bleibt jeder für sich. Und unter Beachtung des gesellschaftlichen Kontextes entsteht die Theorie der beiden Parks.
Der Leleh-Park entspricht der persischen Demokratie. Hier treffen sich Menschen der verschiedenen Generationen, weil sie sich miteinander verabredet haben. Eigeninitiative herrscht vor, im Mittelpunkt ist, was Befreundete oder Verwandte miteinander unternehmen wollen. Es ist eine eigenständige Kommunikationsform, von außen nicht kontrollierbar. Dieser Park steht für Aktivität und Volk, man macht Sport, man spielt, diskutiert und organisiert sich selbst. Hier formiert sich der Demos - wie das in den individualistischen westlichen Demokratien kaum mehr vorkommt, außer mit konsumistischen Vorzeichen. Vorgegeben ist wenig: Parkwege, Tischchen, Bänke. Die Optionen stammen von den Benutzern.

Dagegen herrscht im Ab-&-Atash-Park Passivität vor. Man bestaunt die kunstvollen Inszenierungen und wandelt vorbei, und an jedem Eck stehen die Selfie-Fotografen vor den jeweiligen Attraktionen. Die summende Aufgeregtheit hat mit den schwindelerregenden Abgründen unter der Brücke zu tun, mit den Licht-und Finsternis-Inszenierungen sowie mit der Erwartung des nächsten Feuerspektakels. Hier inszeniert sich die Stadt selbst, d.h. die Stadtregierung führt die Skyline Tehrans vor, die am Boden kaum zu sehen ist, und macht die Flaneure zu stolzen Stadtbewohnern und Staatsbürgern in einem Zauberreich voller Illusionen und Erregungen. Die Wege, die sich den Spaziergängern auftun und geheimnisvoll auf verschiedenen Ebenen auseinandergehen, laufen am Ende wieder alle zusammen und liefern das Produkt mit gehobenem Gefühl wieder ab im gewohnten Verkehrschaos der Stadt. Die Optionen sind alle vorgegeben und nur scheinbar verschieden. Hier gibt es Publikum, aber ein Demos formiert sich hier nicht. Dieser Park entspricht der westlichen Ereignismaschine, in der passive Benutzer durch Medien und Freizeitinszenierungen bei Laune gehalten werden. An diesem Abend sehe ich das persische Volk zwischen diesen beiden Parks schwanken, und es lässt sich nicht absehen, wohin sich schließlich die Mehrheit neigen wird. Das ist dann die eigentliche Option, auch für uns im Westen

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